IF3 Masters Worlds 2021

Klaus Werner, Dezember 2021


Ich fahre zur Weltmeisterschaft des internationalen Verbandes für funktionale Fitness. Diesen Sport nennen wir auch „crossfit”, streng genommen „CrossFit®“, denn es ist ein geschützter Markenname. Der Anspruch des Sports ist ein ausgewogenes Training, bei dem die Vielseitigkeit der Athleten gefördert und im Wettkampf auch belohnt wird.
Der allgemeine Begriff „funktionale Fitness“ bzw. „functional fitness“ steckt im Namen des Bundesverbandes (DBVfF) bzw. des Weltverbandes (IF3). Luparo Fitness, unsere „Box“, wie sich die Trainingsstätten gerne nennen, ist bei CrossFit® ausgetreten und hat sich später dem Verband angeschlossen. Dieser ist allerdings nicht mit klassischer Vereinsstruktur organisiert, da die Boxen in der Regel ihrerseits in privater Hand sind. Jedoch bietet der Verband gute Ansätze einer unterstützenswerten Struktur.


Ich nehme an der Landesmeisterschaft des Bundesverbandes teil, die virtuell abgehalten wird. Die vorgeschriebenen Tests werden mit Videoaufzeichnung durchgeführt, das Ergebnis mit Videobeweis eingeschickt. Es sind verschiedene Übungen, die auf dem Rudergerät, an der Klimmzugstange, dem Boden, mit der Langhantel oder anderen Gewichten absolviert werden. Geschwindigkeit und Kraft sind die entscheidenden Erfolgskriterien.  Die Tests sind so gestaltet, dass alles auf begrenztem Raum mit statischer Kamera aufgezeichnet werden kann. Ich bin mit meinen Ergebnissen sehr zufrieden. Für die Regionalmeisterschaft qualifiziere ich mich leider nicht, denn die meisten jungen Männer sind schneller und stärker als ich. Eine Unterscheidung nach Altersklassen ist erst für zukünftige Jahre geplant.
Nach einem Aufruf des Verbandes zu ehrenamtlicher Tätigkeit telefoniere ich mit Jule Nell, um zu sehen, wie ich vielleicht unterstützen könnte. Ich erwähne die Bedeutung älterer Mitglieder nicht nur aus Eigennutz, sondern weil über die Hälfte aller Teilnehmer der Landesmeisterschaft schon zu den Altersklassen gehören, die allerdings bereits bei 30 beginnen. Wenn der Verband wachsen und stark sein möchte, sollte er die älteren Mitglieder nicht vernachlässigen. Es muss nicht gleich ein Titel oder ein Pokal sein, bereits ein Glückwunschmail oder eine Auflistung der Altersklassen-Sieger in den sozialen Medien wären eine Anerkennung, über die sich alle älteren Athleten freuen würden. Jule erzählt von der bevorstehenden Weltmeisterschaft für die Älteren, die hier „Masters“ genannt werden. Bevor ich mir den Mund zuhalten kann sage ich, dass ich sowas klasse fände und Jule sagt ungebremst Lazar Bescheid, dass ich Interesse habe. Ich bei einer Weltmeisterschaft, nachdem ich erst gut zwei Jahre unter täglichem Ausschalten des gesunden Menschenverstandes Gewichte einschließlich des eigenen durch die Gegend wuchte? Lächerlich! Blamieren kann ich mich doch auch zu Hause prima, zum Beispiel durch Fallen über die Box beim Versuch drüber zu springen, eins meiner Spezialgebiete, für das ich – neben meiner blauen Zumba-Hose – in der Heimat bekannt bin.
Ich erfahre später, dass ich nicht der Einzige bin, der das Thema beim Verband anspricht. Im Endeffekt ist es Angelo, der Lazar den entscheidenden Impuls gibt.

Freude über die Urkunde


„HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH Du bist Deutscher Meister!“ schreit mich ein Mail an. Ich bin fast versucht, es zu löschen zusammen mit „reich durch Nichtstun“ und „blaue Pillen und es geht wieder“, denn bestimmt enthält es irgendeinen Link, der mich verleiten möchte, irgendeinen Unfug zu tun.
Der Unfug, den ich dann tatsächlich mache, beginnt mit dem nächsten Mail. „Hiermit nominiert Dich … in den National Kader“. Jetzt kann ich keinen Rückzieher machen. Ich buche ein Hotelzimmer, den Flug nach Kairo und beantrage das Visum. Ohne Impfung, der ich bis dato keinen Wert beimaß, würde die Reise möglicherweise sehr hinderlich werden. Ich schaue nach Impfmöglichkeiten, es reicht auf den Tag genau, dass ich beim Abflug als vollständig geimpft gelte. Ebenso knapp ist die Ankunft der offiziellen Teamkleidung. Dank DHL live tracking kann ich die Postkutsche überfallen und mein Paket am Vortag noch sichern.

So viele schicke Klamotten


Wir sind insgesamt 12 Athleten, die teilweise mit Begleitung anreisen möchten. Wir organisieren uns über WhatsApp und machen teils unbekannterweise gemeinsame Zimmerbuchungen. Das Doppel- oder Mehrbettzimmer ist deutlich günstiger als ein Einzelzimmer. Von günstig kann im 5-Sterne Hotel St. Regis sowieso nicht die Rede sein. Die Buchungen laufen über den internationalen Verband, der seinerseits mit dem Hotel die Preise verhandelt hat. Die Ansprechpartner verwenden private e-mail Adressen, der Buchungsprozess wirkt etwas schwerfällig und wenig Vertrauen erweckend. Aber schließlich kommt die Buchungs- und Zahlungsbestätigung zumindest bei den meisten von uns an. Wenige Tage vor der Veranstaltung erreicht uns eine weitere Nachricht, dass wir Deutschen zusammen mit anderen Nationen stattdessen im Kempinski-Hotel untergebracht sind. Ob die Umbuchung automatisch erfolgt oder wir selbst aktiv werden sollten, bleibt im Dunkeln und klärt sich erst auf Nachfrage. Ägyptens Präsident hat kurzfristig beschlossen, im St. Regis Hof zu halten, daher müssen wir weichen.
Leider muss Frank (Athlet in der Altersklasse 55+) kurzfristig die Reise absagen, sein Knie hat den Belastungstest nicht bestanden.


Am Flughafen Frankfurt treffe ich auf Matthias (30+) mit seiner Verlobten Charline. Wie viele andere Athleten betreibt er seine eigene Box und ist auch als Coach tätig. Charline ist Organisationstalent und kümmert sich um vieles bei der Reise, wie zum Beispiel unseren Transfer vom Flughafen Kairo zum Hotel. Im Flugzeug fallen mir ein paar Schwedinnen mit ihren breiten muskulösen Schultern auf, natürlich sind sie auch auf dem Weg zur WM. Im Shuttle vom Flughafen zum Hotel werden wir sortiert, der Fahrer diskutiert ausgiebig mit dem Koordinator. Wir zahlen in bar. Die Preisangaben in Ägypten sind häufig in US-Dollar statt der lokalen Währung, Euro im Umtauschkurs 1:1 sind auch willkommen. „Ruf Mr. Ali an“, bekommen wir zur Antwort als wir den Koordinator nach einer Tour zu den Pyramiden am nächsten Tag fragen. Mr. Ali scheint der Chef zu sein. Charline macht sich gleich ans Werk und die Buchung für den nächsten Tag steht für uns drei und Brita (45+), die später noch zu uns stößt. Im Shuttle fährt die wohl erste Isländerin mit, die ich persönlich kennen lerne, eine echte …dottir! Sie heißt Hulga Gudmundsdottir und startet für Norwegen, wo sie seit 16 Jahren lebt. Dafür hat sie kurzfristig die Staatsbürgerschaft angenommen. Ich die Impfung, sie die Staatsbürgerschaft, die WM zieht ihre Kreise.


Im Hotel wartet Nadine, die von der IF3 für die Gästebetreuung beauftragt ist. Wir treffen uns mit ihr und gehen gemeinsam zur Rezeption. Dort erscheint alles kompliziert, ich verstehe die Hälfte der Fragen nicht, jede Kleinigkeit dauert lange, ein paar Ägypter diskutieren ständig, das scheint eine Art Volkssport zu sein. Noch schlechter sollte es später Lazar, unserem Organisator und Betreuer vom Bundesverband, und Christian (35+) mit Unterstützer Dirk gehen. Sie müssen sich drei Stunden wegen angeblich nicht nachweisbarer Anzahlung ihr Zimmer hart erdiskutieren.


Ich habe meine Schlüsselkarte und möchte wissen, wo es zum Zimmer geht. Nadine bittet mich, auf die anderen beiden zu warten, anschließend würde sie uns den Weg zeigen. Sie schickt uns in den Aufzug. Er funktioniert nicht mit unseren Karten, denn wir haben Zimmer im Erdgeschoß und müssen oder dürfen nicht Aufzug fahren. Das Zimmer ist ok, für den stattlichen Preis allerdings nichts Besonderes. Es ist schon spät, wir möchten essen. Im Hotel gibt es mehrere Restaurants. Das uns für die Halbpension zugewiesene sei das italienische. Dort allerdings weiß man nichts von Halbpension. Charline klärt es an der Rezeption, wir bekommen ein festgelegtes Menü. Ich würde gerne vegetarisch essen, aber ich fürchte die nächste Runde Diskussions-Volkssport und Verzögerungen unbekannten Ausmaßes. Nach zwei Grüßen aus der Küche kommt schon das Dessert. Wo bleibt das Essen? Wir weisen darauf hin, dass wir Sportler sind und Hunger haben. Eine Extraportion Reis und etwas Brot später geht es so einigermaßen mit dem Hunger. Getränke sind wenigstens inklusive. Am nächsten Abend ist das schon wieder Geschichte. Wir müssen die Getränke zahlen und natürlich auch die Pizza, die Matthias und ich jeweils zusätzlich bestellen und Christian das Risotto. Der Aufschlag für die Halbpension ist gemessen an der Leistung eine Unverschämtheit. Besonders hart trifft es Angelo (45+), der konsequent vegan isst. Das 5-Sterne Hotel bietet ihm Ernährung, die mich an Berichterstattungen aus Flüchtlingslagern denken lässt. Ich erkundige mich bei den Norwegern, auch sie sind unzufrieden. Beschwerden bei Nadine fruchten zunächst nicht, aber dank Lazars Einsatz können wir die Halbpension für die letzten beiden Tage stornieren und in dem guten asiatischen Restaurant à la carte essen. Dort gibt es zwar auch keine vegetarischen oder gar veganen Hauptspeisen, aber Angelo und ich stückeln uns Vorspeisen und Beilagen zusammen. Dass wir alles jeweils doppelt bestellen möchten, übersteigt allerdings die Vorstellungskraft der Kellner. Erst mit großem Nachdruck in etwa fünf Anläufen lassen sie sich darauf ein. Selbstredend dauert der ganze Prozess mit Bezahlung drei Stunden.


Wir fahren zu den Pyramiden und der Sphinx. Wenn schon Ägypten, dann möchte ich das auf jeden Fall mitnehmen. Geplante Startzeit ist acht Uhr. Es wird aber immer fünf Minuten später, wobei „fünf Minuten“ in Ägypten die universelle Zeitangabe für künftige Ereignisse ist. 5 Minuten plus X, das X ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Unbekannte, nur eines ist sie sicher, größer Null. Gegen halb zehn kommen wir los. Wir nutzen die Zeit und dehnen uns in der Hotel-Muckibude. Der Reiseleiter im Bus erzählt uns abwechslungsreich und interessant mit sehr gutem Englisch über die Geschichte, die Stadt, über Gott und die Welt. Seine kritische Haltung zu den politischen Ereignissen der jüngeren Vergangenheit lässt er auch nicht aus. Die längere Fahrt an Bauruinen und Schutthaufen vorbei führt schließlich über den Nil und kurze Zeit später sind Pyramiden zwischen den Häusern zu sehen. Mit dabei sind ein Franzose und ein Belgier, die sich eher distanziert verhalten und sich als Hauptschiedsrichter zunächst nicht zu erkennen geben. Weiterhin fahren ein paar Amerikaner mit, unter anderem Gretchen Kittelberger, die Präsidentin des Weltverbandes. Der Name kommt mir bekannt vor, es dauert eine Weile bis mir einfällt, dass ich sie als Athletin von alten youtube Videos der CrossFit Games kenne. Ihr Mann macht ein Foto von uns beiden, selbst neben mir wirkt sie erstaunlich zierlich.


Sobald man im Innenbereich des Pyramiden-Geländes ist, gibt es keine weiteren Absperrungen. Es ist verboten, auf die Pyramiden zu klettern, aber viele halten sich nicht dran. Man ist allerdings auch nicht geschützt vor Leuten, die einem sehr aufdringlich allerhand Unnützes verkaufen wollen oder auf ein Kamel steigen lassen möchten. Der Ritt sieht sehr unbequem aus, mit Kyle aus Texas ziehen wir Parallelen zum Rodeo. Wir steigen immer wieder unnötigerweise in den Bus, um ein paar hundert Meter weiter die Pyramiden von der anderen Seite zu sehen, wo wir schon vorher zu Fuß gewesen sind. Anschließend geht es zur Sphinx, an die man nicht ganz so nah rankommt. Wir machen ein paar Fotos. Inzwischen wird der Wind stärker, Sand ist überall in der Luft, die Sonne sieht nur noch aus wie der Vollmond.
Auf dem Weg zum Museum machen wir einen fünfminütigen Zwischenstopp in einem Parfümladen, in dem es zum Glück Toiletten gibt. Wir hören uns einen halbstündigen Vortrag darüber an, dass alle bekannten Marken wie Calvin Klein, Joop und Hugo Boss bei ihnen einkauften. Die eigentlichen Originale würden bei ihnen hergestellt. Er hat die Geschichte schon so oft erzählt, dass er sie selbst zu glauben scheint. Die Amerikaner kaufen für sich, ihre Freunde und Kinder. Für die Europäer bringt es meines Erachtens der Belgier neben mir raunend auf den Punkt: „Riecht alles wie Klospülstein“.
Schließlich geht es weiter zum Museum. Sicherlich interessant, aber ich bin Kulturbanause und langweile mich schnell. Wir treffen zum ersten Mal auf Mr. Ali, den vor unserem geistigen Auge schmerbäuchigen älteren Herren, dem das Hemd ein bisschen aus der Hose hängt und sind erstaunt einem recht jungen, dynamischen, sympathisch wirkenden Mann gegenüberzutreten. Wir können mit Karte bei ihm für die Tour zahlen, per WhatsApp schickt er mir die Rechnung. Er heißt Aly Tarek und sein Profilbild zeigt ihn beim Kite Surfen.


Am nächsten Tag können wir vormittags kostenlos in einer Box in 20 Gehminuten Entfernung trainieren, Bewegungsabläufe nochmal durchgehen. Der Weg dorthin ist abenteuerlich, aber wir kommen irgendwann an. Es macht Spaß und die Stimmung in der Mannschaft ist gut. Nachmittags fahren wir zur Wettkampf-Sportanlage. Bei einer Polizeistation an der Autobahn werden wir aufgehalten und stehen eine Weile. Irgendwann halte ich es im stickigen Bus nicht mehr aus, gehe raus und frage nach dem Grund der Verzögerung. Es gehe in fünf Minuten weiter, es seien nur noch Details mit der Polizei zu klären, die nicht wüssten, dass so viele Athleten unterwegs seien und eine Eskorte organisieren wollten. Zu unserer eigenen Sicherheit sollen wir lieber zurück in den Bus. Wir fühlen uns weder besonders schutzbedürftig noch unsicher und bleiben draußen. Nachdem das Ganze ausgiebig diskutiert ist, vermutlich auch mit finanzieller Unterstützung, geht es weiter, von einer Eskorte sehe ich nichts.
Es ist ein großzügiges Gelände mit Sport- und Schwimmhalle, einem Tennis Center Court, Laufstrecke, Fußballplätzen und mehr. Die Handballweltmeisterschaft fand dieses Jahr ebenfalls dort statt. Für die Eröffnungsveranstaltung mit Einweisung der Athleten werden wir zunächst nach Nationen sortiert. Die Ungarn stehen neben uns und werden von den Veranstaltern gesucht „Who is Hungary?“. Den blöden Witz kann ich mir nicht verkneifen „We are hungry and the Norwegians are hungry, too“.
Die Tests sind zwar vorher bekannt gegeben worden, aber die Schiedsrichter stellen sie uns nochmal vor, da es immer abweichende Details zu klären gibt und Fragen gestellt werden können. Vieles ist klar, manches überraschend, z.B. der tie break beim Gewichtheben. Bei gleichem Gewicht gewinne, wer es schneller oben habe. Wie sie das umsetzen wollen, ist mir ein Rätsel. Sie stellen uns die Tests in der Reihenfolge vor, in der wir sie zu absolvieren haben. Auch das stimmt nur teilweise, für viele, unter anderem auch mich, sind die Reihenfolgen anders.


Am nächsten Morgen geht der Wettbewerb los. Meine Altersgenossen und ich sammeln uns für den ersten Test am Eingang. Wir stellen uns kurz vor, Faust auf Faust in aller Freundlichkeit. Dabeisein ist gerade unter den Älteren die Hauptsache, aber natürlich möchte jeder eine gute Leistung abliefern. Igor aus Russland kann nur wenig Englisch und fragt mich ein paar Sachen zum Ablauf. Alle helfen sich gegenseitig, auch Igor soll keinen Nachteil haben, weil er manches nicht versteht. Ich muss an die alte Schnulze von Stephan Sulke „Der Mann aus Russland“ denken. Damals waren Russland und die Sowjetunion im Sprachgebrauch eins und Kiew wurde im Lied mal schnell in Russland verortet. Wahnsinn, wenn man sich die Lage in der Ukraine heute anschaut. Allen physischen Merkmalen zum Trotz kommt Igor mir vor wie ein kleiner Bruder. Er ist 30kg schwerer als ich, hebt doppelt so viel Gewicht und rennt halb so schnell. Passend zu unserem Sport landen wir am Ende punktgleich auf demselben Platz in der Tabelle.


Die Tests sind für alle Altersklassen gleich. Gerade deshalb sind sie für die jüngeren und älteren total verschieden. Die Gewichte werden zwar etwas gestaffelt, aber teilweise sind die Übungen so schwer, dass für manche Ältere einiges gar nicht machbar ist oder ein Teil der Übungen gar nicht angegangen werden kann, weil das Zeitlimit vor Abarbeiten der ersten Hälfte erreicht wird oder das sogenannte buy-in gar nicht geschafft wird. Es betrifft alle gleichermaßen, aber manche der Älteren beschweren sich über diese Unverhältnismäßigkeit.
Es sind sechs Tests, die alle jeweils ein anderes Thema haben. In der Reihenfolge, in der ich sie absolviere, sind es die folgenden. Demo-Videos zur Veranschaulichung finden sich auf Competitioncorner.


Freitag, 10.12.2021


Mixed

Gemischt aus verschiedenen Übungen sind das typische crossfit Tests. Im konkreten Fall müssen wir abwechselnd je 30, 20 und 10 mal bar facing burpees (auf den Boden legen, wieder aufstehen und über die Hantel springen), gefolgt von hang snatches (Gewicht über Kopf reißen aus Hüfthöhe) mit 40 kg auf der Langhantel durchführen. Anschließend geht es direkt über in 10, 20 und 30 wall balls (9 kg Ball gegen 3 Meter hohes Ziel werfen) und hang cleans (Gewicht aus Hüfthöhe auf die Schulter bringen) mit 40 kg.
Die burpees sind leicht, ich bewege mich schnell, weil ich weiß, dass ich viel Zeit für die snatches brauchen werde. Mein Ziel ist es, mit den snatches fertig zu werden und zumindest noch einige wall balls und cleans zu schaffen. Das läuft nach Plan, ist erwartungsgemäß sehr schwer für mich und viele sind am Ende schneller, weil sie mehr Kraft haben und ihnen die snatches leichter fallen.


Endurance

Das ist der Ausdauertest. Wir schwimmen 300 Meter in einem 50 Meter Becken und rennen sechs Kilometer über die Anlage. Das ist nicht Kompliziertes, ich freue mich darauf.


Nach Diskussion mit einigen der anderen deutschen Athleten entscheide ich mich fürs Brustschwimmen, denn wegen der Corona-Verordnungen konnte ich nicht ausreichend Kraulschwimmen üben.
Ich springe ins Wasser, es hat angenehme Temperatur, schwimmen macht Spaß. Etwas später zieht Marcus aus Norwegen mit lockerem Kraulzug an mir vorbei, aber er gewinnt kaum Abstand. Im Endeffekt steige ich als zweiter aus dem Wasser zu meiner Überraschung.
Das Laufen beginne ich nach Plan mit etwa 4:30 pro Kilometer. Marcus hat etwas Abstand, aber läuft schätzungsweise nur 4:50. Nach 1,5 Kilometer setze ich zum Überholen an. Er hört mich kommen, macht einen Schritt nach rechts, gibt mir damit die Innenbahn frei und wünscht mir noch alles Gute. Ich halte mein Tempo, es läuft gut. Gegen Ende der zweiten Runde feuert mich Nicolette (55+) an: „Es ist nicht mehr weit“. Sie hat ihren Ausdauertest vorher schon gewonnen. Ich laufe vermutlich als erster meiner Gruppe ein, aber ich bin nicht sicher. Es laufen nämlich mehrere Gruppen gleichzeitig, auch weiß ich nicht, was die erste Gruppe meiner Altersklasse gemacht hat. Ich schaue nie auf die Tabelle und erfahre über WhatsApp von zu Hause erst abends, dass ich gewonnen habe. Ich habe sogar 2:10 Abstand auf den Zweiten.


Samstag, 11.12.2021


Strength

Das ist ein Krafttest. Wir machen Gewichtheben, Stoßen mit einer zusätzlichen Kniebeuge nachdem das Gewicht auf den Schultern ist und bevor es über Kopf ausgestoßen wird. Der Test ist in einer sogenannten Leiter angeordnet, bei der das Gewicht von Station zu Station ansteigt. Für jede Station hat man 40 Sekunden Zeit. Die Leiter beginnt bei 50 kg und endet bei 150 kg. Das Wichtigste ist, dass ich meine Zumba-Hose anziehe, um den Leuten zu Hause eine Freude zu bereiten. Leider ist der offizielle live stream unzuverlässig. Dankenswerterweise hat Dennis, Nicolettes Sohn und Trainer, für den Bundesverband den live stream übernommen, filmt und feuert die eigenen Athleten an, was das Zeug hält.
Mein Plan ist, die 70 kg noch zu heben und die 80 kg nicht zu versuchen, da ich keine großen Erfolgsaussichten sehe und kein Risiko für meine Knie vor dem Skill Test eingehen möchte. Ich gehe sowieso davon aus, selbst mit 80 kg den letzten Platz zu belegen. Hierbei irre ich mich. Der tie break wird entgegen der Ankündigung doch nicht nach Zeit, sondern mit der Anzahl deadlifts (Kreuzheben) des nächst höheren Gewichts ausgefochten. Das erfahre ich von einem Schweden erst kurz vor dem Test. Da ich bei 80 kg abbreche, ist mein deadlift Gewicht also 90 kg, was ich im vorgegebenen Zeitintervall 15 mal anhebe. Im Endeffekt belege ich den letzten Platz, Peter aus Finnland den vorletzten. Es sollte der einzige Test sein, in dem Peter nicht den letzten Platz belegt, vielleicht habe ich ihm eine kleine Freude bereitet. Igor gewinnt in unserer Altersklasse mit 120 kg.
Björn (40+) erkämpft sich mit 115 kg einen guten Wert. Sein Schiedsrichter lässt ihn bei den beiden letzten Gewichten extrem lange die Hantel über Kopf halten, bevor er den Versuch als gültig wertet.  Sehr fragwürdig - und natürlich ermüdend.


Skill

Das ist ein Test der Geschicklichkeit oder Fähigkeit, schwierigere Übungen durchzuführen, so die Theorie. So ganz trifft das hier nicht zu, aber das nur nebenbei. In zwei Minuten klettern wir dreimal ein Seil von 4,5 Meter Höhe hoch (rope climb) und machen 10 einbeinige Kniebeugen (pistols). Das ist der buy-in.
Danach geht es an die overhead squats, von denen man in der verbleibenden Zeit der zwei Minuten möglichst viele ausführen soll. Diese Anzahl ist die eigentliche Wertung. Es sind Kniebeugen, bei denen man ein Gewicht von 45 kg an der Langhantel über Kopf hält. Das Ganze wird vier Runden lang gemacht mit einer Minute Pause zwischen den Runden.
Das ist mein Test, ich habe mir eine Kombination aus rope climbs und overhead squats gewünscht, noch bevor es veröffentlicht wurde. Mein Plan ist, etwa je 30 Sekunden für Seil und pistols zu brauchen und die restliche Minute für die Kniebeugen zu nutzen. Viel mehr als eine Minute könnte ich sowieso nicht gebrauchen, da irgendwann die Beine und die Arme nicht mehr können. Es läuft alles nach Plan. Seil und pistols sind stabil, alle Wiederholungen sind gültig. Ich schaffe 60 overhead squats und damit etwas mehr, als ich erwartet habe. Ich belege den dritten Platz in diesem Test.
Pit (30+) holt in einer fantastischen Zeit den ersten Platz seiner Altersklasse.
Jeff aus den USA beschwert sich, dass die Veranstalter kurzfristig die pistols zu normalen Kniebeugen umwandeln für die Alterklasse 60 und höher. Er kann die pistols gut, was ihn von den anderen abhebt.

Bodyweight

Das sind Übungen mit dem eigenen Körpergewicht. Ein ähnliches Schema wie beim Mixed: 21-15-9 Wiederholungen pull-ups (Klimmzüge) und handstand push-ups (im Handstand an der Wand, den Kopf auf den Boden absenken und wieder hoch), gefolgt von 9-15-21 toes-to-bar (an der Klimmzugstange hängend, Zehen an diese anheben) und push-ups (Liegestütze).
Bodyweight mache ich gerne, da mein Körpergewicht niedrig ist. Allerdings habe ich bisher mehr auf Kraft als auf Wettkampf trainiert. Im Wettkampf ist Schwung holen jeglicher Art erlaubt, sofern es nicht explizit ausgeschlossen wird. Bei den handstand push-ups darf man beispielsweise die Beine und die Hüfte wie ein Frosch anziehen und in die Luft katapultieren, um die Arme zu entlasten. Bei den Klimmzügen ist der sogenannte butterfly pull-up die effizienteste Art, den Standard zu erfüllen, aus der hängenden Position das Kinn über die Höhe der Stange zu bewegen. Dabei zappelt man ähnlich wie ein Fisch an der Angel, aber natürlich kontrolliert.
Ich bin am Tiefpunkt meiner Energie angelangt, wenig Essen, wenig Schlaf, die schweren Tests vorher und die Wärme machen mir zu schaffen. Der Plan ist, schnell durch die ersten pull-ups zu kommen, da ich für die handstand push-ups viel Zeit brauchen werde. Diese mache ich in Sätzen von drei Wiederholungen. Ich beginne mit den butterflies, die Schiedsrichterin zählt laut, aber statt „1,2,3“ zählt sie „no rep, no rep, no rep“, also keine gültige Wiederholung. Ich zapple stärker, dann endlich höre ich „1,2,3“. Von sechs Versuchen sind nur drei gültig. Das ist nicht effizient, ich muss etwas ändern. Ich „kippe“ mir die Wiederholungen zusammen, nicht so effizient, aber stabil. Es läuft einigermaßen, aber das Ziel, zumindest noch ein paar toes-to-bar zu schaffen, verfehle ich knapp. Sogar Igor ist etwas besser als ich und das mit 30 kg mehr Körpergewicht. Die Wettkamptechniken muss ich für künftige Veranstaltungen trainieren.
Angelo ist nach mir dran, ich freue mich darauf, ihm zuzuschauen. Ein ägyptisches Medienteam fängt mich ab, Dennis‘ Konkurrenz. Die Ägypter möchten wissen wie der Wettkampf für mich läuft und was ich von Ägypten halte. Ich denke mir meinen Teil und sage einen anderen. Das Interview ist schnell vorbei. Angelo ist schon bei den toes-to-bar, die zwar nicht ganz rund laufen, aber er ist trotzdem schnell. Ich schreie ihm zu, er soll kleine Sätze machen und wieder ran. Er nickt, ist aber quasi schon fertig, denn es sind nur noch fünf Wiederholungen. Bei den letzten push-ups schreit er sich nach oben. Er ist sehr schnell und scheint vor allen anderen zu sein in seiner Startergruppe. Er rennt ins Ziel, in dessen Verlängerung ich stehe und wirft sich Schulter an Kehlkopf, Brust an Brust in einer eingesprungenen Umarmung auf mich. Der Schmerz ist kurz, die Freude überwiegt. Er wird Zweiter bei diesem Test.

Power

Ein harter Sprint mit schwerem Gewicht für mich. Das Zeitlimit liegt bei vier Minuten. 50 kg sind auf der Langhantel und diese ist bei allen Übungen in der Startposition auf der Schulter. 21 thrusters, also in die Kniebeuge und beim Aufstehen die Hantel über Kopf bringen, gefolgt von 16 Metern Ausfallschritten, gefolgt von 9 mal die Hantel von der Schulter über Kopf bringen (ohne Kniebeuge).
Mein Plan ist, die 21 thrusters in Dreiersätzen in unter drei Minuten zu schaffen und dann weiterzusehen. Der Plan geht auf, aber ich weiß, dass ich damit auf den hinteren Plätzen landen würde. Die meisten werden komplett fertig, ich schaffe nur noch 12 Meter Ausfallschritte.


Angelo holt in einem sagenhaften Sprint den ersten Platz in seiner Altersklasse. Matthias schafft es in unter zwei Minuten, eine überragende Leistung.
Alle jüngeren Damen, also Brita, Anna, Sandra und Katrin dürfen den Test mit 45 Kilo machen, nur fünf Kilo weniger als ich. Sie schaffen es alle innerhalb des Zeitlimits. Starke Frauen!


In der Gesamtwertung landen wir alle mindestens auf Platz 11 bei bis zu 22 Teilnehmern in den verschiedenen Klassen. Anna wird Weltmeisterin, Pit und Nicolette Vize und Christian belegt den dritten Platz. Wir haben nur eine kleine Flagge, die auf dem Podium etwas verloren aussieht. Auch ist es uns nicht wie den Franzosen gegeben, die Nationalhymne mit Inbrunst zu singen. Wir sind dennoch stolz auf unsere vier Podiumsplätze und freuen uns über unsere guten Leistungen. Auch wenn es alles andere als ein Mannschaftssport ist, so haben wir Wettkampfathleten, unsere Begleiter und Unterstützer Lazar, Charline, Dennis, Dirk und Christian (der mit Sandra angereist ist) doch eine tolle Gemeinschaft und vor allem viel Spaß miteinander. Ebenso sind die Begegnungen mit den Sportlern aus anderen Länder interessant, lustig und bereichernd. Es gibt kaum die üblichen für mich mittlerweile langweiligen Gespräche über die Corona-Situation, das ist eine erfrischende Abwechslung in dieser Zeit.


Die durchwachsene Organisation des Events, das Hotel, die stark variierenden Schiedsrichterleistungen und die Zeitverschwendung der Ägypter ärgern manchmal. Insgesamt bin ich aber dankbar, dass es überhaupt Menschen gibt, die so etwas in die Hand nehmen. Ich rufe mir gerne in Erinnerung, was Ben Bergeron, der Trainer vieler erfolgreicher Athleten, zum Umgang mit Widrigkeiten geschrieben hat. Ich versuche, sie nicht zu sehr an mich heranzulassen und mich auf das zu fokussieren, was ich beeinflussen kann, vor allem auf meine eigene Leistung.


Bruder Igor treffen wir zufällig noch am Flughafen. Er fliegt zunächst nach Moskau, wo sein Sohn wohnt. Im Flugzeug kann ich mich über drei Sitze hinlegen und schlafen. Ich komme völlig erledigt, aber überaus zufrieden zu Hause an.
Zu einer Weltmeisterschaft mit einem solch tollen Team würde ich immer wieder fahren.

Und wer bis hierhin durchgehalten hat, dem trauen wir zu, dass ihn auch noch der VLog interessiert, den Phil Steiner vom Luparo mit Klaus aufgezeichnet hat.
Ihr findet ihn auf Youtube.

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